Leseproben aus Verloren Wasser. Erzählungen (2018)
DER FEUERSALAMANDER
Einmal entdeckte das Kind einen Feuersalamander, er saß ganz rechts auf den feuchten Steinstufen, die zur Casa Lüscher hinaufführten, und rührte sich nicht. Nie zuvor hatte das Mädchen ein solch gelbschwarz geflecktes Tierchen gesehen, das glänzte, als wäre es mit Zuckerguss bestrichen. Liebte es etwa den Schatten und die feuchte Kühle, anders als die flinken Eidechsen, die, eben noch den Kopf der Sonne entgegengestreckt, blitzschnell davonhuschten und in den Mauerritzen verschwanden, sobald man sich ihnen näherte? Der Feuersalamander hingegen regte sich nicht, er schien das Kind gar nicht zu bemerken, oder war er von furchtloser Natur? Nicht einmal als es laut nach der Großmutter rief, rührte sich das seltsame Tierchen. War es etwa taub? Die Großmutter, auf das Rufen hin herbeieilend, belehrte das Kind, der Salamander sei von Gott durchaus mit Ohren ausgestattet worden, es sei jedoch nicht ratsam ihn zu berühren, da seine Haut eine glitschige Flüssigkeit absondere, die wie Feuer brennt. Das Kind versank in Betrachtung des nackt und hilflos aussehenden Tierchens, das gleichwohl über gewaltige Kräfte zu verfügen schien: Es musste nicht davonhuschen wie die Eidechsen, diese Harlekine, die im schlimmsten Fall den schuppigen Schwanz abwarfen, wenn eine Katzenpfote sie erwischte. Es schützte sich – im leuchtend gezeichneten Feuergelb seines nackten und gewundenen kleinen Leibes, dessen Flanken, einem winzigen Blasebalg gleich, sich weiteten, hoben und senkten –, indem es sich der Reglosigkeit anvertraute, ein Feuerwesen, das jeden bestrafte, der ihm zu nahe kam. Der Feuersalamander war ein Meister, zweifellos; im bewahrten Erleben schien er heranzuwachsen mit dem Kind, still und reglos und beinahe vergessen, seit jenem Augenblick, als es ihn zum ersten Mal erblickte.
Ausschnitt aus der Erzählung Frühe Täuschungen, AQUINArte (2013) und Edition Contra-Bass (2018)
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Er war ein in die Waldeinsamkeit Gehender, Ludwig, ein großgewachsener, kräftig gebauter Junge, freundlich, zutraulich und verschlossen zugleich, den Vera zuletzt getroffen hatte, als er sechzehn war. Der Mann, der ihr nun entgegentrat, unsicher lächelnd, war ein anderer geworden. Einer, der wieder und wieder das Dorf durchqueren musste, wo sie ihm mit ihren Blicken folgten.
Vierzehn Jahre war Ludwig gewesen, als ihm das Dorf gewissermaßen zugeteilt worden war: Martha, seine Mutter, hatte entschieden, hierher zu ziehen, nach Südfrankreich, in die Région Languedoc-Roussillon, unweit von Perpignan, mit den zwei jüngeren Brüdern, der kleinen Schwester und ihm, dem Ältesten. Ein Aufbruch nach Süden, ein Neuanfang, zwei Scheidungen im Rücken – eine zupackende Frau, die weiß, was sie will, ein paar französische Redewendungen im Gepäck, das musste reichen. Bald schon hatte Ludwig sie überholt; wenn nötig, übersetzte er. Zusammen mit den Brüdern erkundete er das Dorf, peu à peu, wie man es hier tut als Kind, als Jugendlicher, avec des copains, durch die Gassen, hinaus, hinunter zum Bach. Die drei Musketiere, bemerkte er schelmisch, mit einem Seitenblick zu Vera. Er lachte sein kehliges, wenig heiteres Lachen.
Ein wenig schwerfällig, ja zögerlich war sein Schritt gewesen, damals schon, als habe er viel mit sich herumzutragen, eine unbestimmte Last; auch war sein Blick wachsamer, selbst zu den Seiten hin, als der seiner Brüder und der anderen Jungen im Dorf. Aber er machte mit, pourtant, ein wenig das Dorf aufmischen, die üblichen bêtises: Sie hatten Kracher in die Lamellen der Fensterläden gesteckt, in die geschlossenen, abends, wenn sie durch die Gassen huschten. Wie das knallte, wenn die Fensterscheibe barst, man konnte es um drei Hausecken hören. Oder in die Briefkästen. Schallverstärkung. Oder ein hübsches Paket schnüren für den Feind: merde, in Zeitungspapier gewickelt, vor die Haustür gelegt, anzünden, klingeln, wegrennen.
Jeden Morgen stieg Ludwig in den Schulbus, der vor dem Haus hielt, am Dreispitz der Dorfkreuzung, zusammen mit seinen Brüdern. Er hatte aufgepasst in der Schule, er war in ihre Schule gegangen, in eine Schule voller Unfreiheit: Für die Schülerzeitung hatte er Artikel dagegen verfasst, die hatten sie ihm um die Ohren gehauen. Vive la liberté! Es kam vor, dass er schon vor der Schule geraucht hatte, fumer de l’herbe. Irgendwann wollten sie ihn nicht mehr, er war anstrengend geworden. Was wussten sie schon von ihm? Hatte er einen ihrer Sätze aufgeschnappt, konnte er sich den Rest ersparen: Wir haben dich nicht gerufen. Le petit boche, sagte er zu Vera. Immer noch besser als ein Araber.
Zudem spielte er nicht Fußball, weder in der Schülermannschaft noch mit den Dorfkindern, ein weiteres, verschärftes Risiko für einen Heranwachsenden. Geschichte hingegen, l’histoire, packte ihn, und im Gegensatz zum augenscheinlichen Desinteresse der meisten seiner camarades de classe interessierten ihn von Beginn an die Jahreszahlen der Kriege, der großen Gefechte, und schließlich die Machenschaften der politischen Machtzentren. Da war nichts oder alles Zufall, soviel war klar. Also eher nichts. Er hatte den Jahreszahlen mehr Augenmerk gewidmet als die meisten seiner Mitschüler. Nach und nach begann er zu begreifen, wie sie sich mit den Begebenheiten verknüpft hatten, wie larvenhaft eine aus der anderen hervorgekrochen war und diese aus der vorangegangenen und so fort, im Kriechgang der Geschichte, aus den Hüllen der Jahrzehnte, Jahrhunderte. Nach der Schule zeichnete er die Jahreszahlen auf, mit einem Graphitstift, gegen Abend, wenn seine Mutter vor dem Fernseher ein Nickerchen hielt oder bereits unten im Restaurant Vorbereitungen traf. Er trug sie in ein Netz ein: Kunstvoll versponnen zogen sich die feinen Linien und Notizen über Blätter aus weißem Papier, aneinander geheftet, ausgelegt auf dem Boden oder an die Wände genagelt, bestückt mit erdumspannenden Katastrophen, siegreichen oder von Beginn an aussichtlosen Kriegen, bösartigen Intrigen, Machenschaften, eingespannt in ein Gitterwerk aus Jahrhunderten. Manche Lichteinfälle machten ihn glücklich. Noch hatte er Hoffnung, sein Leben könnte gelingen. Die Bachläufe logen nicht. Die Vögel fanden ihre Nistplätze im Frühjahr wieder.
Was kann einem Jungen Heimat werden, einem wie ihm? In den lauen Sommernächten saß er mit den arabischen Jungs auf der Bank an der Dorfkreuzung, kiffte und lachte mit ihnen.
(…)
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In unruhiger Nacht war Ludwig hinuntergelaufen zum Bach, vor sich hin murmelnd, morgens um halb vier, als der Vollmond noch über den Dächern stand. Im Dorf war es still, nur ein Hund schlug an. Niemand war jetzt unterwegs außer ihm. Aus der Ferne hörte er das Wasser am Wehr rauschen, und der gefleckte Mond hielt Wache über einer Welt, die ihm seine grenzenlose Einsamkeit vorhielt: Alles war da, in diesem Augenblick. Bevor es verschwinden würde. Er setzte sich an die Böschung am Bach, der an dieser Stelle sacht dahinfloss, und zog eine Zigarette aus der zerknautschten Packung. Vor sich sah er den zerstückten Mond im Bach flackern. Er lächelte. Dann legte er den Kopf in den Nacken, stieß mit langem Atem den Rauch aus und schwieg.
Ausschnitt aus der Erzählung Verloren Wasser, Edition Contra-Bass (2018)
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Er hatte diese schmalen, flinken, bernsteinfarbenen Augen, die je nach Stimmung und Lichteinfall heller wirkten oder dunkler und in denen etwas Unbändiges glimmte – die Augen eines Steppensohnes. Anna hatte sich in ihn verliebt, als er die Sonnenbrille abnahm, im Sommer 1981, in einem Straßencafé in Charlottenburg; sie war Mitte zwanzig, er zehn Jahre älter. Es war eine große und wilde Zeit, mit Gelagen im „Zwiebelfisch“ am Savignyplatz, wo sie oftmals hockten bis morgens um vier, obwohl sich Anna schon damals mit durchwachten Nächten schwer tat und zu später Stunde oftmals in einen Zustand somnambulen Gleichmuts verfiel. Er hingegen gab keine Ruhe, bis ihm vom Rotwein endlich die Zunge schwer wurde; dann konnte es vorkommen, dass er zu singen anfing, die Rolling Stones, let it roll, baby, roll, während er sie ansah, um schließlich langsam und benommen den Kopf zu schütteln – du kannst Menschen kennen – und eine Weile vor sich hinzublicken, in Schweigen versunken. Dabei hatte sie überhaupt nichts gesagt. Noch ein Glas Rotwein. Dann, endlich, war er bereit, ein Taxi zu rufen, komm, lass uns eine Sänfte nehmen, und sie fuhren das kurze Stück die Kantstraße hinauf, zu ihm, in seine Wohnung.
Er sprach fließend Italienisch, und er liebte das südliche Italien, die Stiefelspitze, Napoli, Sizilien und die Äolischen Inseln; er kannte sie fast alle, seine Auserwählte aber war Salina, la perla. Dort hatte er ein kleines weißes Haus gemietet, mit Außendusche und einem etwas entfernten Klohäuschen, mit Terrasse und Blick aufs Meer. Wann immer möglich, verbrachte er dort ein paar Wochen im Jahr. Wie wenig man doch zum Leben brauchte. Anna besuchte ihn dort. Viel Geld hatten sie nicht, aber es reichte, sie kochten Pasta mit Sugo à la Michele, auf einem zweiflammigen Gasherd, der draußen an der Hauswand stand.
Das Meer, der bunte Kieselstrand. Wie unbehelligt sie hier sein konnten, nach nur einer Viertelstunde Fußweg vom kleinen Hafen entfernt. Vor ihnen ragte der Kegel Strombolis am Horizont in den tiefblauen Himmel, und unter den Füßen brannten die Kieselsteine schon am späten Vormittag. Nur ein Handtuch hatten sie dabei, eine Flasche Wasser und den Sonnenschutz der Einheimischen, eine gerüttelte Mischung aus Meerwasser und Olivenöl; sie zogen sich aus und liefen ins Meer… In den Augustnächten fielen Sternschnuppen – da, schau, una stella cadente, wieder eine, in freiem Fall, wünsch’ dir was, Carissima.
Vielleicht hätte sie sich wünschen sollen, er wäre nicht so oft unten am Hafen in der Bar hängen geblieben, nächtelang, um zu plaudern, mit den Salinesern, alten Freunden und Neuankömmlingen, schönen Frauen, Glas um Glas, figura te. Anna wusste, er hätte es nicht ausgehalten ohne
diese Nächte, er liebte die Geselligkeit, la dolce vita, man freute sich, wenn er auftauchte, brachte ihm seinen vino rosso, ohne dass er etwas hätte sagen müssen, und zuletzt, bevor er aufbrach, zwei Fernet branca. Oftmals kam er erst in der Morgendämmerung den Berg hinauf zum Haus, saß noch ein Weile auf der Türschwelle, rauchte und blickte hinaus auf das sich dem Morgenlicht ergebende Meer; dann erst zog er sich aus, ließ sich auf die Matratze fallen und rollte unter dem weißen Laken in ihre Arme, als müsse es nun einmal so sein.
Ausschnitt aus der Erzählung Nach Osten. Bilder eines Abschieds, Edition Contra-Bass (2018)